Zwar hatte das Schicksal mir wunschgemäß eine Sterbephase zugedacht, bei ihrer Ausgestaltung ging es aber wieder einmal unfreundlich vor. Es ist ja nicht so, dass ich nicht wüsste, was gut für mich wäre. Ich meine sogar zu wissen, was für alle schön ist. Tja, aber das war an diesem ansonsten recht sonnigen Tag, wie so oft in meinem Leben, wertlos.
Alles verlief zunächst nach Plan. In der Nacht hatte ich intensiv geträumt und war aufgewacht, um mir die Bedeutung des Inhalts bewusst zu machen. Es dauerte etwas bis ich Gefühl und Atmosphäre des Traumzustands wieder erfasst hatte, dann noch einen Moment, bis ich alle Bilder und Wechsel erinnerte und dann war es klar: Ich würde am nächsten Tag sterben, wenn ich mich nicht täuschte.
"Oh-wei - wie-aufregend". - "Na ja, aber jetzt wird erst fertig geschlafen", entschied ich, "morgen ist ja noch ein Tag".
Als ich aufwachte, schien mir die Sonne in's Gesicht. Ich liebte es, wenn sie das tat und dankte ihr dafür. Sie wusste wohl, dass es mich heute besonders freute. Ich trank Wasser, machte mir ein Nutellabrot und setzte mich auf meinen Balkon vor den Garten. Was war zu tun, wenn man stirbt? Nun, um alles zuvor in Ordnung zu bringen, blieb nicht genügend Zeit. Auch fehlte mir dafür die Lust. - Obwohl, eine Stunde würde ich dafür wohl opfern können. Ich entschied, was Wert für andere hatte und stellte es in ein Zimmer. Das ging schnell. Dann rief ich für den Rest einen Entrümpelungsdienst an und engagierte ihn für sofort. Okay, alles zusammen dauerte dann doch zwei Stunden, aber mein Zeitgefühl war ja noch nie besonders gut.
Nun war ich frei, um zu sterben. Ich rief meine FreundInnen an:
"Hallo, ich werde heute sterben, vermutlich am Nachmittag. Es wäre schön, wenn du dann vorbei kämst."Zuvor wollte ich noch Zeit für mich und die Welt haben. Auch hatte ich ein mulmiges Gefühl: War vielleicht auch der Nachmittag noch zu früh für den Einfluss Dritter?
Ich ging noch einmal zum Bäcker, zum Supermarkt, zum Kiosk, zur Eisdiele und holte mir beim Friseur ein Shampoo, nur um dort etwas zum schönen Wetter sagen und einmal in die Runde lächeln zu können. Mehr nicht. Heute ging es darum, das Sterben zu erleben.
Wieder zu Hause, trank ich Kaffee, rauchte ich eine Zigarette und machte ich ein Foto von mir. Ein Vorher-Foto. Die wilden Tiere meines Gartens nahmen trotz meiner besonderen Situation immer noch keine menschlichen Züge an; denn keines legte den Arm um mich und postierte sich mit auf dem Foto. Ameisen und Fliegen belästigten mich nicht mehr als sonst. Offenbar reagieren ihre Instinkte nicht verfrüht. Also konnte ich es wagen Gartenarbeit zu verrichten.
Ich wollte ja immer gerne in der Natur sterben. Am liebsten auf einem Erdhügel liegend. Schon früh war in mir das Bild eines Vogels aufgestiegen, der bei Regen sterbend auf Gras und Laub lag. Dies war der Inbegriff von Ästhetik für mich. Auch der Moment, in dem die Transformation von Verwesendem zu Erde vollzogen ist und dieser Haufen erstmals nach Erde und nichts als frischer Erde riecht, ist überwältigend schön. In Deutschland ist ästhetisches Sterben für Menschen aber nicht möglich, im kleinen Garten eines Mehrfamilienhauses schon mal gar nicht. Wichtig war mir innerhalb der mir gesetzten Grenzen daher zumindest das Miterleben der seelischen Transformation. Ruhe und Einklang schien mir dazu passend.
Jetzt trudelten nach und nach meine FreundInnen ein. Sie waren verwirrt und hatten unzählige Fragen:
Wie ich denn darauf käme, dass ich starb und wer mir das mitgeteilt hätte und dass ich sie doch hoffentlich nicht an einem Suizid teilhaben ließ und ob ich nicht lieber in die Notaufnahme gehen wollte, weil ich dann ja vielleicht überlebte und ob man nicht wenigstens diesen beengenden Garten verlassen sollte, damit ich großartiger sterben könnte...
"Ich sterbe heute, das weiß ich einfach und das ist großartig genug, das will ich nicht verpassen," antwortete ich.
Ich bekam großen Durst und ging in's Haus, um Wasser zu holen. Ich trank es dann aber direkt vor dem Wasserhahn und trank und trank und trank und goss es mir über den Kopf und steckte den Kopf unter den Hahn und stellte mich in die Dusche und ließ das Wasser laufen und laufen und... - Es hatte begonnen, ich starb. In mir begann eine Abkopplung. Mein Herz schlug nur noch für's Sterben - und würde aufhören, wenn es vorbei war.
Draußen war Unruhe aufgekommen. Man schickte nach mir. Zwei FreundInnen zogen mich aus der Dusche.
"Was machst du denn da? Du hast doch alle Kleidung an!"Zwei weitere FreundInnen guckten besorgt zu den anderen hinüber. Alle waren sich einig und das erklärte ihnen im Nachhinein alles: Ich war verrückt geworden.
Ich hörte sie nun telefonieren: "Wir haben einen Notfall. Einen Nervenzusammenbruch oder so etwas. Nein, ihre Augen sind zwar auf, aber sie ist nicht wirklich bei Bewusstsein."Sie teilten es sich untereinander mit:
"Der Rettungswagen kommt gleich."Ich wollte in den Garten, aber sie hinderten mich daran.
Ich wollte sagen: "Lasst mich verflucht noch mal nach draußen," aber ich brachte keine Worte mehr hervor, sondern nur Stöhnen.
"Oh Gott, wann kommt denn der Rettungswagen endlich?" parierte ihr überfordertes Verantwortungsgefühl.
Ich war verraten und verkauft. Ich will den Rest nicht erzählen, er hat schon genug Raum eingenommen. Nur so viel: Um 17.15 Uhr stöhnte ich auf einer klinisch-weißen Intensivstation, umgeben von vermummten Fremden ein letztes mal in eine Beatmungsmaske, wurde umgehend in einem Kühlraum zwischengelagert und später überführt, um verbrannt oder in einem Kasten 3 Meter tief zwischen anderen Leichen begraben zu werden.
Ute Ziemes, privat.utez.de,
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