Dienstag, 5. Januar 2016

Weihnachtsgeschichte (2003)

Es war einmal ein Land, in dem gab es kein Weihnachten. Zur Weihnachtszeit gingen deshalb alle arbeiten wie immer. Niemand kaufte und schmückte einen Tannenbaum und kein Kaufhaus hatte ein Weihnachtsgeschäft. Die Menschen hatten keine Weihnachtsgefühle und verschickten deshalb auch keine Weihnachtspost. Es wäre im Dezember also immer ganz schön trostlos gewesen, wenn es nicht, ja wenn es nicht die Wahl zum Supermensch gegeben hätte.

Der Supermensch war für ein Jahr gewählt. Jedes Jahr musste es ein anderer sein. Jeder konnte es theoretisch werden. Man bewarb sich Anfang Dezember und gewählt wurde am 31. Wenn die Auszählung der Stimmen abgeschlossen war und der Supermensch für's nächste Jahr feststand, erfuhren das alle über das Fernsehen, das Radio, das Internet und über Extraausgaben der Zeitungen. Im ganzen Land wurden dann Feuerwerke gezündet, es wurde überall mit Sekt angestoßen und fröhlich getanzt. Man fasste sich an der Hand und lauschte der Ansprache des neuen Supermensch, die über große Lautsprecher überall auf den Straßen zu hören war. Der Supermensch war jemand, den alle sehr bewunderten. Alles, was hergestellt wurde, bekam sein Foto eingedruckt, sogar die Lebensmittel. Und er bestimmte alles. Das Wetter, Reformen und Preise, den Frieden, Gesundheit und Glück.

Die Bürger des Landes konnten außerordentlich toll hoffen und glauben. Sie glaubten einfach, dass das jeweilige Wetter genau richtig war. Und feierten den Supermensch täglich dafür. Wenn jemand glücklich war, entzündete er dem Supermensch zu Ehren dafür eine Kerze. Wenn jemand ein Baby bekam, sagte er seinem Kind, dass sein wichtigster Elternteil letztlich der Supermensch sei, dem in diesem Jahr einfach alles zu verdanken war. Wenn jemand Pech hatte, fragte er beim Supermensch höflich an, wofür das gut sein soll. Und der Supermensch fand dazu eine Antwort. Und jeder Pechvogel verstand sie so, dass er wieder dankbar sein konnte.

So waren die Erinnerungen eines Menschenlebens stets positiv und ohne Ausnahme verbunden mit den diversen amtierenden Supermenschen. Und kein Supermensch wurde je vergessen. Man sagte nicht "weißt du noch im Jahre 2003...", sondern "weißt du noch der Supermensch Martha Schmitz" und erzählte dann seine Erinnerungen, die man glaubte, allesamt Martha zu verdanken.

Wenn ein Jahr zu Ende ging und die Kandidaten für's nächste Jahr sich meldeten, begann eine wunderbare Zeit des Abschieds und der Vorfreude zugleich. Der amtierende Supermensch wurde so liebevoll und hochachtungsvoll verabschiedet, wie man sich das heute und in unserem Land kaum vorstellen kann. Man erinnerte sich nochmal an das ganze Jahr, an alles, was der Supermensch getan hatte und alle waren so gerührt, dass sie viel weinten, lachten, sangen und tanzten, manchmal sogar gleichzeitig. Und jeder Kandidat und jede Kandidatin wurde mit einem Lächeln betrachtet, weil man davon ausging, dass es mit ihm oder ihr sicher auch so wunderschön werden wird.

Und wisst ihr was ? Es wurde tatsächlich immer wieder so schön.

Ute Ziemes, privat.utez.de,

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